Ein Lebensbild

von Reiner-Ernst Ohle

Kurt LorenzKünstler bleiben durch ihre Werke und über ihre Geschichten der Nachwelt in Erinnerung. Kurt Lorenz‘ Werke – vornehmlich Porträts und Landschaften- sind zum größten Teil in Familien- und Privatbesitz. Über sein Leben kursieren unter Leverkusener Künstlern unzählige Anekdoten; typische Künstlergeschichten, die von der Zeitnot und vom Produktionsdruck erzählen, die ihn zeitlebens begleiteten, von Bildern, die noch keine Zeit zum Trocknen hatten und schon auf die Bühne oder in eine Ausstellung mussten oder im letzten Moment noch vollendet wurden, weil ­ wie etwa seine Frauen in den Karnevalsdekorationen- sie noch bis kurz vor Veranstaltungsbeginn etwas zu leicht bekleidet waren. Die Begriffe sinnlich, lebensfroh und gesellig nehmen in der Erinnerung an Kurt Lorenz einen breiten Raum ein.

Sein Selbstporträt, das auf jeder Publikation des Kurt Lorenz-Vereins zu sehen ist, zeigt einen ganz anderen Kurt Lorenz. In diesem Halbporträt dreht er – auf einem hoch gestreckten Hals – seinen Kopf über die linke Schulter, um aus dem Augenwinkel – am Betrachter vorbei – etwas mit größter Aufmerksamkeit in den Blick zu nehmen, was neben dem Betrachter stattfindet. Blick, Gesicht und Körperhaltung sind offen für verschiedene, einander diametral entgegengesetzte Interpretationen: Wendet er sich dem Betrachter zu oder dreht er sich von ihm weg? Zeigt er sich selbst in einer gespannten oder in einer entspannten Pose? Hat er in sein Gesicht mehr Skepsis oder mehr Neugier eingetragen? Sind Körper- und Kopfhaltung entspannt oder gespannt, ist der Blick streng oder konzentriert? Ist Gelassenheit oder Zweifel die vorherrschende Stimmung? Das Selbstporträt ist das Selbstzeugnis eines Einzelgängers, der für seine Geselligkeit bekannt war und allein mit seinem Blick den Betrachter auf sein Umfeld und sich selbst verweist – und dabei ganz nebenbei und unspektakulär darauf aufmerksam macht, dass jede Bildinterpretation genauso wie das Selbstporträt immer auch eine Selbstreflexion ist.

Kurt Lorenz war Porträtmaler, Landschaftsmaler, leidenschaftlicher Interpret der gegenstandslosen Malerei, Bühnen- und Kostümbildner, Karikaturist, Kabarettist, Illustrator, Designer, Werbezeichner und Lehrer. So wie im europäischen Feudalismus der Hofmaler eine herausgehobene Stellung in der Öffentlichkeit bekleidete, verkörpert Kurt Lorenz den Typus des freischaffenden Künstlers in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Sein Wirkungskreis war Leverkusen. Ihn trug eine Stadtgesellschaft, die in der Nachkriegszeit ihre wesentlichen Prägungen erhalten hat, gekennzeichnet durch ihren gemeinsamen Aufbruch, ihr enges Miteinander und ihre Bindung an ihren Standort. In Wiesdorf, wo er bis zu seiner Übersiedlung nach Küppersteg lebte, war er verwurzelt, hier war er ein stadtbekannter Gelegenheitszeichner, der immer einen Stift mit sich führte und dort zeichnete, wo immer er sich gerade aufhielt und was immer ihm gerade zur Hand war: die Porträts und Karikaturen auf Ringbuchblättern, Servietten und Bierdeckeln werden von ihren Besitzern wie kleine Schätze gehütet Die Vielfalt der Berufe und das riesige, weit verzweigte Werk ist aber nicht nur ein Hinweis auf ein überragendes Talent, auf eine lebenslang anhaltende Schaffenskraft und einen unbändigen Ausdruckswillen. In erster Linie war er ein Künstler, der seine ganze Existenz mit radikaler Unbedingtheit auf seine künstlerischen Fähig- und Fertigkeiten gründete und dabei auf eine Stadtgesellschaft stieß, die ihn in immer anderen Rollen und Fertigkeiten forderte und förderte. Ohne eine exklusive Zuwendung an ein Genre, ausgestattet mit einer ausgewachsenen Passion für Geselligkeit, ist das Werk von Kurt Lorenz allein definiert über sein Können und die große Zahl der Gelegenheiten, es öffentlich zu zeigen – nicht über Posen, Marotten, Meinungen oder Konzepte.

Entgegen landläufiger Vorurteile ist Kurt Lorenz‘ Werk als Künstler in Leverkusen nicht beschädigt worden. Leben und Werk sind vielmehr das Produkt dieser Stadt, in der er sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Russland, wo Aquarelle entstanden, denen die Schrecken des Krieges nicht anzusehen sind, niedergelassen hat.

Warum lässt er, der als Meisterschüler die Kunstakademie Düsseldorf, wo er freie Malerei, Portraitmalerei und figürliches Zeichnen von 1933-35 studierte, verlassen hat, sich in Leverkusen nieder – warum ist Leverkusen für ihn nicht nur eine Durchgangsstation? Was hat Leverkusen einem jungen Künstler zu bieten, der Mitglied im legendären Düsseldorfer Malkasten war und als Student im Kabarett seine Bühnentauglichkeit unter Beweis stellte? Kurt Lorenz wurde am 18. Januar 1914 in Opladen geboren, sein Vater war städtischer Medizinalrat, der Schulbesuch in Opladen begonnen und im Schlossinternat Kirchberg abgeschlossen. 1945 heiratete er in Ostpreußen seine Frau Lore. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.

Sieht man einmal von diesen familiären Bindungen an sein späteres Lebenszentrum ab, so war Leverkusen – objektiv betrachtet – nach 1945 für einen Künstler nicht der schlechteste Platz für eine Existenz- und Familiengründung. Gemeinsam mit den Gebrüdern Plönes, Frida Schubert – Steingräber, Lüneschloss, Müller – Brodmann, den Bildhauern Walter Koch und Max Pohl, dem Schriftsteller Hermann Kamper gründete Kurt Lorenz die Künstlervereinigung „Die Leiter“ , deren Tagungsort Gaststätte Willi Paas und das Restaurant im Erholungshaus war. 1951 wird mit dem Museum Morsbroich das erste Museum in der jungen Bundesrepublik gegründet, dass sich selbst kompromisslos der modernen Kunst widmet. Dabei gelingt es einer lokalen Initiative, einem Bürgerkreis von Besitz und Bildung, die ursprüngliche Idee eines Heimatmuseums durch ein eigenes Konzept abzulösen, dessen radikaler Zuschnitt, die Konzentration auf die Moderne und die zeitgenössische junge Kunst, nicht zuletzt eine Reaktion auf 12 Jahre Nationalsozialismus war – eine Zeit, die die Moderne verfolgt, vernichtet und vertrieben, der Kunst jedwede Freiheit genommen und in den Dienst ihrer Ideologie gestellt hat. Nahezu euphorisch suchen Industrie und Wirtschaft Anschluss an die Moderne, was etwa bei der Gründung des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie zum Ausdruck kommt. Das bürgerschaftliche Engagement für Kunst und Kultur war nach dem zweiten Weltkrieg weit verbreitet ­ nach 1945 sind in ganz Deutschland die Privatsammlungen entstanden, die heute oft in den Besitz von Museen übergehen und wichtige Entwicklungen der Kunst des 20.Jahrhunderts widerspiegeln. Dank seines Könnens fand Kurt Lorenz schnell Zugang zu den Kreisen, die in Leverkusen in der Kasinogesellschaft versammelt waren. Seit 1901 war die Kasinogesellschaft ein Forum, eine Anlaufstelle für Akademiker und leitende Mitarbeiter der Bayer AG, die ihr arbeitsfreies Leben im Kreis gleichgesinnter und -gestellter Kollegen und ihrer Familien verbrachten und in standesgemäßen Formen selbst organisierten – ein ambitionierter Hausmusikkreis, Keimzelle der Kammermusikreihe der Kulturabteilung Bayer – zählte ebenso dazu wie verschiede Feste oder das Kindertheater, das heute – mit anderen Zwecken – noch immer vornehmlich der Zerstreuung und Unterhaltung dient. Für Kurt Lorenz entwickelte sich sein Künstlerleben als eine Verkettung von Begegnungen mit Bürgern, die alle durchweg in der Kasinogesellschaft aktiv waren. Er porträtierte nicht nur Vorstandsmitglieder des Unternehmens und ihre Familien, sondern auch eine Vielzahl anderer Vereinsmitglieder und Stadthonoratioren. Jeder ausgeführte Auftrag führte dabei zwangsläufig und folgerichtig in ein nächstes Engagement. Was für Außenstehende wie ein endloses Rollen – und Maskenspiel des Künstlers Kurt Lorenz aussieht, ist der Lebenszusammenhang eines freien Künstlers, der immer wieder gefragt worden ist, sein Können in den Dienst unterschiedlichster Auftraggeber zu stellen. Das überlebensgroße Wandbild gehörte dazu ebenso wie die politische Karikatur, der Karnevalswagen, die kleine Modeskizze, die Illustration für ein Medikamentenprospekt oder das Weihnachtsmärchen im Kindertheater. Die Kasinogesellschaft war ein Dreh- und Angelpunkt im gesellschaftlichen Leben der Stadt Leverkusen, in dem durch die Nähe zu Politikern, Künstlern, Bürgern und leitenden Mitarbeitern der Bayer AG immer wieder neue Herausforderungen und Aufträge entstanden, die in ihrer Vielfalt die Basis für seine Existenz als Künstler schufen und für die Familie ökonomisch eine gewisse Planungssicherheit entstehen ließen. So betrachtet war es kein Wunder und kein Zufall, dass die Stadt Leverkusen Heimat für einen jungen Künstler wurde, dessen außerordentliche Auffassungs- und Beobachtungsgabe einerseits und die Fähigkeit, das Wahrgenommene direkt und exakt in einer Zeichnung umzusetzen andererseits, die Basis aller seiner künstlerischen Tätigkeiten war. Präzision und Dynamik seiner Zeichen- und Malkunst gründeten auf einer soliden Handwerksbasis.

Kurt Lorenz war als Künstler fest verankert in der Tradition des akademisch gebildeten Malers, der feste Grundsätze eines Künstlers nicht unter dem Eindruck von Geschäftssinn und Gefallsucht opferte. Die Porträtmalerei war sein erstes Fach, er verstand es vorzüglich, über das bloße Abbild hinaus die Person als Ganzes zu erfassen.

„Man muss porträtieren, wie die Leute es wünschen – doch das ist leicht gesagt und solche Maler, die so behend sind und allen Wünschen nachgeben, gibt es nicht gar viele …“ stellte Ludwig Meidner 1929 in seinem Traktat über Porträtmalerei fest, ohne dabei das Wesen der Lorenzschen Porträtierkunst zu treffen. Kurt Lorenz schuf keine Gefälligkeitsporträts, verabscheute Nach- und Ausmalaktion auf der Basis von Fotografien und verlangte für ein Porträt die Begegnung und das Gespräch mit dem Porträtierten. Kinder malte er erst, wenn sie mindestens 3 Jahre alt waren. Überliefert sind überraschende Reaktionen aus dem unmittelbaren Familienkreis der Porträtierten, wo oft erst Jahre später entdeckt wird, wie authentisch das Porträt ausgefallen ist und bereits Züge des Porträtierten zeigt, die erst viel später im Leben bestimmend hervortreten. Besonders die Qualität seiner Porträts empfahl den Künstler für weitere Arbeiten. Seine Illustrationen – etwa für Zeitungswochenendbeilagen – zeugen von einem ungewöhnlich sicheren Gespür für Spannungssituationen, der Strich in seiner Grafik und der Zeichnung ebenso wie die Farbe im Bild sind gekennzeichnet von einer erstaunlichen Unmittelbarkeit des Gefühls und der Anschauung. Ausgestattet mit einem wachen Sinn, mit Neugier und Entdeckerlust hat er als abstrakter Maler dem Experiment einen breiten Raum in seinem Werk eingeräumt.

Leverkusen hat er nur auf Urlaubsreisen verlassen, die ihn vornehmlich nach Italien führten. Seine Arbeiten waren in zahlreichen Einzel-und Gruppenausstellungen im In- und Ausland zu sehen. In Leverkusen u.a. im Museum Morsbroich und in der Galerie am Werk. Er hat den Aufstieg der jungen Demokratie zu Wohlstand und Reichtum erlebt, wußte sich getragen von einer Stadtgesellschaft, die seine Arbeit schätzte und ihn als freien Künstler trug. Dem widerspricht nicht, dass er im fortgeschrittenen Alter einen Lehrauftrag als Kunsterzieher am Carl-Duisberg-Gymnasium übernahm und in der Leverkusener Jugendkunstschule Porträt-, Landschafts- und Aquarellmalerei unterrichtete.

Sein Schaffen zeigt, dass es in Leverkusen eine Zeit gegeben hat, in der ein Künstler, der sein Handwerk von Grund auf beherrschte, ohne Festanstellung leben konnte – allein getragen durch Aufträge und Initiativen, die ihm und seinen Arbeiten einen festen Platz im öffentlichen Raum geben wollten und ihn entsprechend bezahlten.

Manchmal wird in Leverkusen von Stars und von Pracht geträumt, bei Sportbällen und Olympia-Empfängen. Schnell vergessen ist das Leverkusen, wie es ist. Selten bis gar nicht kann man von einem Leverkusener als erstes hören, dass er selbst an seinem Wohnort eines der interessantesten Museen Deutschlands hat. Vielmehr hält man streng an dem Glauben fest, man lebe in der Provinz und in der ästhetischen Wüste. Lokalstolz zu pflegen hätte Leverkusen Grund genug. Tatsächlich war es in den Anfängen der Bundesrepublik ein Forum der Avantgarde. Diese Zeit hat auch das Publikum gebildet, das sich jedem Experiment gegenüber lern- und urteilsfähig zeigt und Künstler wie Kurt Lorenz geformt hat, deren Vermächtnis noch immer eine Herausforderung für alle Nachfahren ist.